Die Sonne geht auf, ein neuer Morgen beginnt. Schon der Einstieg in den Tag wird für viele von lauten Geräuschen begleitet. Nicht aber in Mitteregg! Wenn hier die ersten Sonnenstrahlen die Berggipfel streifen, weckt die Bewohner der idyllischen Ortschaft das sanfte Vogelzwitschern. Statt Abgasen liegt der Duft von frischem Heu und bunten Wiesenblumen in der Luft. Ab und an schmiegt sich ein Bauernhaus an die Hügel, auf dessen Weiden Kühe und Ziegen grasen. Es fühlt sich fast ein bisschen so an, als wäre die Zeit stehen geblieben.
Im dorfeigenen Gasthof versorgt Inhaberin Anita Haritzer-Wechner Gäste und Einheimische mit ihrer selbst gemachten Hausmannskost. Jeder kennt hier jeden und alle kümmern sich gemeinsam darum, dass diese Idylle auch erhalten bleibt.
Teil der Heimatpflege: das Heuen in Mitteregg
Besucher Mittereggs können die Natur nicht nur aus nächster Nähe erleben, sondern auch ihre große Vielfalt bestaunen. In den umgebenden Feldern, Wiesen und Wäldern tummeln sich nicht nur zahlreiche Wildtiere, sondern auch die verschiedensten Pflanzenarten. „Diese Flora zählt zu den artenreichsten in den gesamten Westalpen – und das hat auch seinen Grund!“, sagt Gasthofinhaberin Anita Haritzer-Wechner. „Chemische Düngemittel gibt es hier nicht, alles geht seinen natürlichen Gang.“ Seltene Blumenarten erstrahlen im Sommer in ihrer ganzen farbenfrohen Pracht. Auch das ein oder andere Reh oder ein neugieriger Hase schauen im Dorf gerne vorbei.
Dass sich Tiere und Pflanzen in Mitteregg so wohlfühlen, liegt aber nicht nur am Dünger. Das Heuen spielt eine besonders wichtige Rolle bei der Pflege und Kultivierung der Landschaft von Mitteregg. „Ohne das Heuen wäre die Flora eingeengt“, erklärt Haritzer-Wechner. Unkraut überwuchert ohne regelmäßiges Mähen nicht nur private Gärten, sondern auch Felder und Wiesen benötigen die richtige Pflege und Zuwendung.
Wie passiert beim Heuen?
„Im Laufe des Jahres wird in Mitteregg zweimal geheut, beim sogenannten ersten und zweiten Schnitt‘“, berichtet Haritzer-Wechner. „Während anderswo der erste Schnitt meistens im Frühling stattfindet, ist es bei einer Höhenlage von 1.349 Metern wie hier meist erst im Juni so weit.“ Dabei wird das sogenannte „Feldheu“ geschnitten. Im Spätsommer ist die Zeit für den zweiten Schnitt gekommen. Traditionell bewirtschaften alle Dorfbewohner ihre umliegenden Felder selbst. „Gefragt sind daher Ausdauer und Teamwork“, resümiert sie.
Früher, als die Einwohnerzahl noch etwas größer war, packten die ortsansässigen Familien die Sensen und Rechen aus und machten sich damit an die Arbeit. Auch heute ist das Heuen noch eine gemeinschaftliche Aufgabe. Bei nur 17 Einwohnern ist die Zahl der Hände, die mit anpacken können, natürlich begrenzt. So kümmern sie sich heutzutage meist nur zu zweit oder allein um ein einzelnes Feld. „Mittlerweile hält allerdings die Technik Einzug, denn zum Einsatz kommen Motormäher“, sagt die Gasthofbesitzerin. „Für die Arbeit mit großen Traktoren ist es zu steil.“ Sind die Felder erst einmal gemäht, nehmen die Dorfbewohner ganz klassisch Rechen und Heugabel in die Hand. Manche Felder seien so steil, dass sie das Heu mit speziellen Schlitten von Mitteregg ins Tal befördern, schildert Haritzer-Wechner.
Der Tisch ist gedeckt
Nach getaner Arbeit dürfen sich die vierbeinigen Bewohner Mittereggs über die Heuernte hermachen. Nur zwei Bauernhöfe betreiben noch aktive Viehwirtschaft, weshalb die Bauern den größten Teil des Heus von Mitteregg für die Wildfütterung nutzen. Vor allem die Wildkräuter aus dem zweiten Schnitt stehen bei Rehen und Hasen gerne auf der Speisekarte. Nebenbei erfüllt das verbliebene Heu auch im Winter einen Zweck. Wenn die kalte Jahreszeit hereinbricht und die Berggipfel schneeweiß färbt, kann es an den umgebenden steilen Hängen gerne mal zu Schneerutschen kommen. „Aufgestellte Holzböcke, die bepflanzt werden, bieten den Gebäuden dadurch einen gewissen Schutz hiervor“, erklärt Haritzer-Wechner.
Ein Hauch Ortsgeschichte
Während der ganze Ort ein wenig das Gefühl vermittelt, als sei man durch die Zeit gereist, ist vor allem ein Gebäude in Mitteregg ganz besonders geschichtsträchtig: die alte Schule Mitteregg. „Obwohl sie schon seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr aktiv als Schule genutzt wird, sieht alles noch genauso aus wie damals“, beschreibt Haritzer-Wechner. Die rustikalen Holztische und -bänke stehen noch im Klassenzimmer, Tafeln und Landkarten schmücken die Wände.
Auf dem Stundenplan stand ebenfalls Rechnen, Lesen, Schreiben, Sport und Sachunterricht. Eine Turnhalle oder einen Sportplatz gab es zwar nicht, aber draußen in der Natur war genug Platz, um sich ordentlich zu verausgaben. „Auch Wandertage gab es für die Kinder und Jugendlichen – die konnten aber gut und gerne den gesamten Tag dauern und hatten es ganz schön in sich!“, erinnert sich Haritzer-Wechner zurück. Sie waren anstrengend und zeitintensiv, aber auch spaßig.
Von den Anfängen bis zum Ende
Bevor es die Schule gab, fand der Unterricht in einem der Bauernhäuser statt. „1926 bekam die Ortschaft ihr eigenes Schulgebäude – das ebenfalls in Gemeinschaftsarbeit errichtet wurde“, erzählt Haritzer-Wechner. „Trotzdem wurden alle zusammen in einem Klassenzimmer unterrichtet, von der ersten bis zur achten Jahrgangsstufe.“ Wenn die Klassen besonders klein waren, kamen Kinder aus den benachbarten Dörfern dazu. So bewahrte man die Schule viele Jahre lang vor der Auflösung.
1974 war es dennoch so weit: Mit nur noch drei Schülern im Ort. Heute besuchen die ortsansässigen Kinder zwar die Schule in Berwang, aber das alte Gebäude bleibt weiter bestehen. Die Mitteregger sind stolz auf ihre alte Schule und kümmern sich liebevoll darum, dass sie so gut erhalten bleibt. „Das ist unsere Zeitgeschichte“, betont Haritzer-Wechner.
„Diese ist in tadellosem Zustand erhalten, ebenso wie zahlreiche Hefte und Aufzeichnungen. Die Lehrer hielten in der Chronik alles fest, was das Dorf bewegte: Wer geboren wurde, wer verstarb, wer neu herzog“, rekapituliert sie. Auch von geschichtlichen Meilensteinen erzählen diese Aufzeichnungen, wie etwa vom Erdbeben in Namlos in den 1930er-Jahren oder von den Heimkehrern aus dem Zweiten Weltkrieg. Das Lehrpersonal bestand ausschließlich aus jungen Menschen, die in Mitteregg ihre ersten Arbeitserfahrungen sammelten. Damals war es üblich, dass jede Lehrkraft maximal zwei Jahre im Ort bleibt. Viele wären sicherlich gerne länger geblieben, denn in Mitteregg blüht das Herz so richtig auf.